Blog

Wachstum ist eine Gerade nach oben?

Markt machen heißt, Selbstverständliches in Frage zu stellen

Die „Legende vom gesättigten Markt“ entsteht durch gedankliche Muster, die ich in „7 Kapitel von begrenzenden Selbstverständlichkeiten“ zusammengefasst habe.
Diese Selbstverständlichkeiten bauen aufeinander auf, beeinflussen und bedingen einander. Ihre Kultivierung täuscht Marktsättigung vor.

Kapitel 1: Wachstum ist eine Gerade nach oben?

25%

Erste Selbstverständlichkeit: „Wachstum ist eine Gerade nach oben“

Die Selbstverständlichkeit kontinuierlichen Wachstums ist das Paradebeispiel für ein in der Vergangenheit geformtes mentales Muster und seine Folgen und Folgerungen für die Gegenwart.

Wachstum und kein Ende

Nach 70 Jahren wirtschaftlicher Aufwärtsentwicklung seit dem 2. Weltkrieg, und das vor dem Hintergrund von fast 200 Jahren gesellschaftlichen, technischen und sozialen Fortschritts, halten wir es gar nicht mehr für denkmöglich, dass sich Wirtschaft und Märkte auch anders entwickeln könnten als aufwärts. Nicht einmal die Krisenphänomene seit 2009 bringen uns auf die Idee, dass die Entwicklung der Vergangenheit vielleicht ein Glücksphänomen gewesen sein könnte. Wir geben uns wieder den Illusionen „ewiger Wachstumsmärkte“ und ihrer „Beherrschbarkeit“ hin.

Aus systemtheoretischer Sicht gibt es kein unbegrenztes Wachstum. Systeme kommen auf die Welt, entwickeln sich – soll heißen wachsen, schrumpfen, erkranken, gesunden – und verschwinden wieder. Das gilt für Kulturen genauso wie für Unternehmen.

Die Verweildauer der größten 90 US-Firmen auf dem ersten Standard and Poor’s Index von 1920 betrug durchschnittlich 65 Jahre. 1998, mittlerweile zum „Expanded S&P 500 Index“ ausgeweitet, hielten sich die dort angeführten Firmen durchschnittlich nur mehr 10 Jahre in der Liste. Rein rechnerisch heißt das, dass nur ein Drittel der heute dort gelisteten führenden Wirtschaftsunternehmen die nächsten 25 Jahre in wirtschaftlich bedeutender Form überleben werden. Und da denken wir an „ewiges Wachstum“…?

Märkte als triviale Konstrukte

Wie kann es zur kühnen Annahme stetigen Wachstums kommen? Ein wesentlicher Grund liegt in unserem konsequenten Denken und Agieren in Zahlen und Indizes, verbunden mit unserem Maschinendenken. Der Markt (und das Unternehmen) als berechenbare und daher beherrschbare Maschine. Wir haben in vielen Fällen wirtschaftliches, unternehmerisches Tun auf Zählen, Messen, Wiegen, Planen und Prognostizieren reduziert. Und die Verfeinerung der notwendigen Tools perfektioniert. Es gilt aber nach wie vor die alte Bauernregel: „Durch Wiegen wird das Schwein nicht fett!!!“

Wer allein aus der Bilanz die Qualität eines Unternehmens und aus den Quartalsberichten den Zustand des Marktes herauslesen will, verwechselt bewusst/unbewusst die Speisekarte mit dem Essen. Unter Psychologen gilt in der Diskussion um die Aussagekraft von IQ-Test schon seit langem der Satz: „Intelligenz ist, was der Intelligenz-Test misst.“ Auf das heutige Geschäft umgelegt hieße das: Marktwachstum ist, was die Controller berechnen. Oder haben wollen, das kommt manchmal auf das Selbe heraus. Damit sind wir abermals beim Fundament dieser begrenzenden Selbstverständlichkeit: unsere Zahlengläubigkeit und unsere Zahlengetriebenheit. Wie es so schön heißt: „Zuerst bestimmen wir das System, und dann bestimmt das System uns.“

Wenn wir von gesättigten Märkten sprechen, sprechen wir eigentlich zuallererst von einem Konstrukt aus Zahlen, dargestellt in Wachstumsprozenten, Marktanteilsprozenten, Umsatzzuwachsprozenten. Und meist nicht mehr Prozente sondern Zehntelprozente.

Der Blick in den Rückspiegel

Zur Vermeidung von Missverständnissen: Zahlen sind notwendige und hilfreiche Werkzeuge, aber mit dem Denkmodell „Was man nicht messen kann, kann man nicht verbessern“ stoßen wir an Grenzen. Etwas messen zu können heißt nicht, es zu beherrschen. Jeder Meteorologe weiß davon ein Lied zu singen.
Und wenn wir Märkte bearbeiten und Kunden betreuen, ist die Betrachtung der Welt durch die Zahlenbrille besonders problematisch.

1. weil wir damit Menschen auf Umsatzpotentiale und Zahlenlieferanten reduzieren (vor dieser Entwicklung zum Zahlenjäger und -sammler sind weder Marketing-Manager noch Geschäftsführer und Vorstände gefeit) und weil
2. die die Zahlen immer die Vergangenheit abbilden. Philip Kotler formuliert es treffend: „Die Steuerung eines Unternehmens oder eines Marktes über Zahlen ist vergleichbar mit dem Steuern eine Autos über den Rückspiegel.“ Dieses Steuerungskonzept funktioniert nur so lange verlässlich, so lange man auf einer breiten Autobahn ohne Kurven und wenigen anderen Autos unterwegs ist. Die heutige Zeit ist aber gekennzeichnet von vielen Verkehrsteilnehmern, schmäler werdenden Fahrbahnen, erhöhter Anzahl der Kurven und Verengung der Kurvenradien.

Wachstum der Beziehungsqualität

Die geläufige Begriffskette „Zahlen – Daten – Fakten“ impliziert den logischen Automatismus, dass Zahlen Fakten liefern. Ist der gesättigte Markt ein Faktum, nur weil die Zahlen nicht mehr größer werden? Liegt Wachstumspotential nicht vielleicht auch in qualitativen, nicht messbaren Dimensionen? Wir leben doch auch in einer Welt der Beziehungen, nicht nur in einer Welt der Dinge. Sie auf die Dinge zu konzentrieren und die Beziehungen ausser Acht zu lassen, in denen sie zueinander stehen, führt zu fehlerhaften Wachstums- und Markteinschätzungen. Es ist die Beziehung, in der Dinge zueinander stehen, die das Ergebnis ausmacht und nicht die Dinge an sich. Zur Verdeutlichung ein Zahlenbeispiel:

5+5=10
5x5=25

Wir schauen meist nur auf die Zahlen = Dinge und vernachlässigen die Beziehung, die sie verbindet (oder trennt).

Wenn es aus ist, ist es vorbei

Schlussendlich müssen wir es auch für denkmöglich halten, dass ein Markt tatsächlich sterbend oder gar schon tot ist. Die altbekannte Weisheit der Dakota-Indianer lautet: „Wenn Du merkst, dass Du ein totes Pferd reitest, steige ab!“ Aber dazu braucht es Imaginationsfähigkeit und Mannhaftigkeit, um sich von der Illusion ewigen Wachstums und seiner Machbarkeit zu verabschieden.
Und um den Zustand des Marktes einzuschätzen, muss man ihn kennen, und das führt zu zweiten begrenzenden Selbstverständlichkeit, nämlich der Behauptung, dass wir unseren Markt und unser Geschäft kennen.

Wie sehr uns diese Selbstverständlichkeit dem Ziel im Wege steht, mit gelebter Servicequalität für Kunden unentbehrlich zu werden, lesen Sie im nächsten Beitrag.